200 Meter unter der Oberfläche ...

 

Sie scheinen keinen großen Respekt vor dem Leben zu haben.

 

Da täuschen Sie sich. Allerdings kenne ich meine Grenzen nicht. Da, wo jemand sagt „Das mache ich nicht. Davor habe ich Angst“ sage ich: „Woher soll ich wissen, wie es sein wird? Ich habe es ja noch nicht ausprobiert.“ Für mich geht es immer um das Währenddessen und nicht um das Davor oder das Danach. Vorstellungen interessieren mich nicht. Ich bin ein Mann der Tat.

 

Sie stellen sich nicht vor, wie es da Unten sein wird?

 

Zum einen kenne ich das, was Sie „da Unten“ nennen unterdessen schon ein bisschen besser; zum anderen – nein, ich stelle es mir nicht vor. Ich stelle mich darauf ein und bereite mich bestmöglich darauf vor. Wenn ich alles getan habe, was in meiner Macht steht, dann tue ich es einfach. Manche würden das vielleicht Vertrauen nennen. Das ist nicht mein Vokabular. Ich würde sagen: Wenn es soweit ist, schaue ich es mir an.

 

Würden Sie sich auch anschauen, wie sie sich mit ihrem Schlitten im Seil verhaken und nicht mehr hochkommen? – Was glauben Sie, wie hat sich ihr Kollege Loic Leferme gefühlt?

 

Das sind zwei ziemlich merkwürdige Fragen. Zunächst: Natürlich würde ich es mir anschauen. Ich würde es, weil mir nichts anderes übrig bliebe. Ich bin ja nicht der liebe Gott, der im Vornherein weiß, was dann passieren wird. Ich bin, wenn Sie so wollen, während ich am Schlitten in die Tiefe und wieder hochgezogen werde, vollkommen ausgeliefert. Aber eigentlich sind wir das alle. Nur vielleicht wissen das nicht alle.

Und dann: Ich mache mir keine Gedanken darüber, wie Loic sich gefühlt haben mag. Wozu auch? Er hat es erlebt – und sein Erlebnis mitgenommen. Das reicht. Meiner Meinung nach macht es die Menschen krank, ständig darüber nachzudenken, wie sich etwas anfühlen könnte. Ich habe jedenfalls kein Interesse daran, Vorstellungen zu akkumulieren. Akkumulierte Vorstellungen erzeugen in der Regel Angst und führen so zu völlig falschen Überzeugungen und überzogenen Verhaltensweisen. Die kann ich beim Apnoe-Tauchen am aller wenigsten brauchen.

 

Sie haben einmal gesagt: „Ich bin immer noch und immer wieder ganz am Anfang“ Was haben Sie damit gemeint?

 

Das ich immer noch und immer wieder Schüler bin. – Ich bin hier. Wo sollte ich sonst sein? Das ist der Anfang. Von hier aus mache ich mich auf den Weg. Das nächste Mal vielleicht auf 250 Meter. Ich weiß nicht wo die Grenze ist. Und dann bin ich wieder da, also hier. Genau betrachtet kann ich den Anfang niemals hinter mir lassen. Was ich auch tue, wo ich auch bin, immer steht alles im Anfang. Ich will ausloten, was möglich ist. Als Anfänger habe ich den allergrößten Respekt vor der Aufgabe, die sich mir stellt.

 

Wozu das Ganze?

 

Wozu, was? – Wozu atmen Sie? Wozu arbeiten Sie? Wozu gehen Sie jeden Abend wieder ins Bett?

 

Vielleicht, um wieder aufzustehen, um weiter zu machen und weiter zu leben.

 

Dasselbe gilt für mich. Aber weiter leben – was heißt das? Für mich bedeutet es, mich nicht zu wiederholen. Wenn ich mich wiederhole, sterbe ich. Dann schaltet etwas in mir ab. Wenn etwas in mir abschaltet, bin ich nicht mehr präsent. Das wird beim „Not Limits“ sofort mit dem Tod belohnt. Das ist nicht, was ich mir zum jetzigen Zeitpunkt wünsche. Allerdings habe ich nicht vor, mich dem Tod zu verweigern. Wenn er kommt, werde ich mit ihm gehen.

 

Das klingt so, als ob sie sich heimlich doch nach dem Tod sehnen würden …

 

Ich sehne mich nicht danach. Ich weiß um ihn. Der Tod ist eine Realität. Die einzige Gewissheit, die wir alle gemeinsam haben. Das Extremtauchen hat mich gelehrt, mich vollkommen zu sammeln. Ich weiß, dass ich hier bin. Immer. Und wenn der Tod kommen sollte, um mich abzuholen, werde ich ihn willkommen heißen und bei ihm sein. Dann – und keinen Augenblick eher. Eines ist für mich ganz klar: Ich lebe – ich bin dem Leben begegnet.

 

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie nach Unten rauschen?

 

Währenddessen – einmalig. Damit meine ich: Da gibt es nichts anderes. Ich sinke. Es wird immer dunkler. Ich bin geistig entspannt und verbrauche fast keinen Sauerstoff. Der Kletterer Jon Krakauer hat mal gesagt, dass er oberhalb von 8000 Metern den Verstand eines Reptils hat. Das trifft es sehr gut. 100 Meter unter dem Meeresspiegel hört das Denken auf. Dann bin ich einfach nur noch. Aber darüber mache ich mir keine Gedanken. Gedanken brauchen Raum, Kraft und Sauerstoff. Da Unten wird alles auf das Wesentliche reduziert.

 

Was ist ihrer Meinung nach wesentlich?

 

Über das Wesentliche wird seit Jahrtausenden philosophiert. Dabei interessiert sich das Wesentliche nicht für unsere Meinungen. Meinungen sind nicht wesentlich. Wesentlich ist, was übrig bleibt, wenn da keine Meinungen mehr sind. Wesentlich ist also das, was ist. Das, was gerade erlebt wird, ist wesentlich. Alles andere ist eingebildeter Natur und damit mehr oder weniger wahnsinnig.

 

Wie meinen Sie das?

 

So, wie ich es sage.

 

Dann versuche ich Mal, ihre Aussage auf ein konkretes Ereignis zu übertragenen: Meinen Sie, dass das Ereignis, das zum Irakkrieg geführt hat, eingebildeter Natur ist?

 

Glücklicherweise bin ich kein Politiker. Mir liegt es fern, Scheingefechte auszutragen. Ich sage nur das, was mir offensichtlich ist: Der 11.9. hat nicht zum Irakkrieg geführt. Der 11.9. hat dazu gedient, den Irakkrieg zu rechtfertigen. Das ist etwas ganz anderes. Und es ist wahnsinnig. Ein anderes Beispiel macht es vielleicht noch deutlicher: Die Gesetze des Marktes dienen z.B. als Rechtfertigung dafür, Tiere unter entsetzlichen Bedingungen zu halten. Sie dienen dazu, dass wir uns selbst demütigen. Das ist vollkommen verrückt. Wir leben in einer wahnsinnigen Welt, weil wir sagen, dass wir nichts dafür können. Ständig fühlen wir uns zu irgendetwas gezwungen. Wer sein unangemessenes Verhalten mit Ereignissen aus der Vergangenheit zu rechtfertigen versucht und nicht mitbekommt, was er gerade tut, ist wahnsinnig. Wir wiederholen das Leid wieder und wieder, um davon frei zu werden. Das ist der Punkt.

 

Ich hatte eigentlich vor, Sie einen gelangweilten Gott zu nennen. Aber so wie es aussieht, hat sie „der Rausch der Tiefe“ zu leben gelehrt.

 

Gelangweilter Gott? – Das gefällt mir! Rausch der Tiefe weniger. Das ist ein Plakat. Den dazu gehörigen Film schauen sich besagte Götter an. Für mich geht es ausschließlich darum, mein Leben zu leben. – Was wollten Sie mir ursprünglich vorwerfen?

 

Dass Sie mit ihrem Leben spielen und es in Extreme zwingen. Dass ihr Körper nicht will, was sie mit ihm tun. In 214 Metern Tiefe wird die Lunge auf ein zwanzigstel ihres normalen Volumens zusammen gequetscht, nur das in die Kapillaren einschießende Blut schützt sie vor dem Kollabieren. Auf ihrem Körper lastet das Gewicht von mehreren Tonnen. – Vielleicht genügt es ihnen doch nicht, einfach da zu sein.

 

Ich verstehe. Meinen Sie, dass es besser ist, sich die Füße in den Bauch zu stehen oder von morgens bis abends wie leblos vor einem Computerbildschirm zu sitzen? Neben Stress, Übergewicht und Haltungsschäden sind Depressionen und Schlafstörungen heute ein so weit verbreitetes Phänomen, dass man sie unter dem Sammelbegriff „Zivilisationskrank-heiten“ zusammengefasst hat. Zivilisationskrankheiten sind gesellschaftsfähig, sie werden akzeptiert. – Ich fühle mich nicht krank. Ich leide nicht. Alles, was ich sagen kann ist: Ich habe es mir abgewöhnt, mein Leben im Voraus kennen zu wollen. Ich bin bereit. Vielleicht ist das einer der Vorteile, die jemand hat, der sehr tief abtauchen kann …